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Freitag, 11. März 2011

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Eine alte Frau hält ein Baby in ihrem Arm. Das Kind liegt im Sterben. Es ist die Liebe ihres Lebens. Um diese Szene zu begreifen muss man die über zweieinhalb vorhergehenden Stunden gesehen haben, welche in diesem auf den ersten Blick abstrus anmutenden Bild gipfeln. Soviel Zeit nimmt sich David Fincher um uns den seltsamen Fall eines nicht ganz normalen Mannes namens Benjamin Button – gespielt von Brad Pitt - zu erzählen. Bei keinem anderen Film (ausser vielleicht Memento) erscheint es passender, ein Review mit dem Ende des Filmes zu beginnen, denn auch für Benjamin Button geschieht vieles in umgekehrter Reihenfolge. Geboren in dem Körper eines alten Mannes muss Benjamin Tag für Tag die Tücken des alltäglichen Lebens meistern, während sich sein Körper im Laufe seines langen Lebens immer weiter verjüngt. Zweifelsohne eine sehr seltsame Geschichte. Die Fragen, die sich jeder Zuschauer stellen und selbst beantworten sollte, lauten: "Ist das alles? Bietet mir der Film nur diese aussergewöhnliche Grundidee? Oder ist da mehr? Nutzt Fincher diese unkonventionelle Geschichte um uns etwas über unser Leben zu erzählen? Um unser Leben aus einer alternativen Perspektive zu beleuchten?"

Die Kritikerwelt war bezüglich der Antworten dieser Fragen gespalten. Derek Malcolm von der London's Evening Standard bemerkt dazu beispielsweise Folgendes: "Never at any point do you feel that there’s anything more to it than a very strange story traversed by a film-maker who knows what he is doing but not always why he is doing it." Eine Aussage, die viele meiner Bekannten, mit denen ich mich über den Film bereits unterhalten habe, unterschreiben würden. Weshalb ich jedoch in keinster Weise damit übereinstimmen kann, will ich im Folgenden erklären. Für mich enthält "Der seltsame Fall des Benjamin Button" eine Vielzahl von Motiven, die aus dem Film wesentlich mehr machen als nur eine originelle Geschichte. Für mich erzählt der Film von Schicksal, Liebe und Tod. Und er erzählt über das Leben, seine Schönheit und auch Vergänglichkeit und wie all diese Aspekte untrennbar miteinander verbunden sind.

Die Geschichte von Benjamin wird uns dabei in Rückblenden erzählt. Eigentlich befinden wir uns in einem Krankenhauszimmer in New Orleans, zusammen mit einer alten, im Sterben liegenden Frau und ihrer Tochter. Draussen wütet der Hurrikan Katrina. Die Tochter soll ihrer Mutter aus einem alten Tagebuch vorlesen und wird im Laufe des Films dadurch von ihrem wahren Vater und der grossen Liebe ihrer Mutter Daisy erfahren. Die Wahl von New Orleans und des Hurrikans Katrina mag im ersten Moment zufällig erscheinen. Ebenso wie die Entscheidung, während des Filmes mehrmals einen Kolibri zu zeigen. Fakt ist jedoch, dass der Kolibri der einzige Vogel auf der Welt ist, der rückwärts fliegen kann. Fakt ist auch, dass sich Hurrikans in der südlichen Hemisphäre im Uhrzeigersinn, in der nördlichen Hemisphäre jedoch gegen den Uhrzeigersinn drehen. Diese sehr subtilen Hinweise paaren sich mit offensichtlicheren Symbolen (wie eine rückwärts laufende Bahnhofsuhr) und stehen somit in perfekter Symbiose mit dem Protagonisten, welcher sein Leben in gewisser (körperlicher, nicht geistiger) Hinsicht rückwärts lebt.

Als Benjamin am Ende des Ersten Weltkriegs in New Orleans geboren wird und seine Mutter bei der Geburt stirbt, setzt sein geschockter Vater den deformierten kleinen Körper vor einem Altersheim aus. Dort findet Benjamin in Queenie - gespielt von Taraji P. Henson - eine liebevolle Ersatzmutter, die ihn niemals nur nach seiner Hülle beurteilt. Zur Verwunderung aller überlebt das kleine schrumpelige Kind und wächst fortan im Altersheim auf. Nach einigen Jahren ist Benjamin, wenn auch geistig noch ein kleiner Junge, vom äusserlichen her kaum von den Altersheimbewohnern zu unterscheiden. Dadurch, dass Benjamin in einem solchen Umfeld aufwächst, muss er schneller und unvorbereiteter als jeder andere Mensch erkennen, dass alles Leben und alle Begegnungen vergängliche Momente sind. Alle Freundschaften, die er knüpft, sind bereits nach viel zu kurzer Zeit wieder beendet. Der Tod ist ein ständiger Begleiter. Benjamin begreift dadurch, dass die Zeit, die uns gegeben ist, umso grössere Bedeutung erhält und dass man sie, unabhängig von den eigenen Voraussetzungen, nutzen und geniessen sollte. Ähnlich ist wohl auch folgendes, wunderschönes Zitat seines späteren Freundes Captain Mike - grandios gespielt von Jared Harris - zu interpretieren: "You can be as mad as a mad dog at the way things went. You could swear, curse the fates, but when it comes to the end, you have to let go." So definiert sich Benjamin niemals, obgleich dies wohl der einfachste Weg für ihn gewesen wäre, über seine "Krankheit", sondern darüber was er tut und was nicht: "Your life is defined by its opportunities... even the ones you miss." Und dass auch vermeintlich schlimme Dinge immer auch eine Chance mit sich bringen können, ist eine der hoffnungsvollen Grundaussagen, die wir aus Benjamin Button mit nach Hause nehmen sollten. Wäre Benjamin nicht im Körper eines alten Mannes geboren worden und wäre seine Mutter nicht bei der Geburt gestorben, so wäre er niemals in diesem Altersheim aufgewachsen und hätte wahrscheinlich niemals die Enkelin einer Altersheimbewohnerin kennengelernt, die die Liebe seines Lebens werden sollte. Ob dies Schicksal oder Zufall zu nennen ist, lässt Fincher im Ermessen des Betrachters und ist bei genauerem Überlegen vielleicht sogar irrelevant.


Als Benjamin die zu diesem Zeitpunkt 7 Jahre alte Daisy kennenlernt, sind beide sofort fasziniert voneinander, wenngleich Benjamin's Äusseres dem eines alten Mannes gleicht. Sie verbringen als "Spielkameraden" glückliche Momente miteinander, doch obwohl beide vielleicht schon wissen, dass sie füreinander bestimmt sind, ist ihre gemeinsame Zeit noch nicht gekommen. So bricht Benjamin, immer noch in der Gestalt eines alten Mannes, eines Tages auf, um die Welt zu erkunden. Auf dieser Entdeckungsreise entwickelt der Film viele wundervolle, teils skurrile Momente, wie beispielsweise der erste Bordellbesuch eines scheinbar alten Mannes, der die Prostituierte erschöpft, befriedigt und überrascht zurücklässt oder die wunderbaren Begegnungen mit der erfahrenen Elizabeth - gespielt von der wunderbaren Tilda Swinton - welche aus der Bekanntschaft zu dem faszinierenden Benjamin neue Leidenschaft und Lebenslust schöpft. So vergehen viele Jahre, und während der Kontakt zwischen Daisy und Benjamin niemals ganz abreisst, entwickelt sich Daisy – nun gespielt von Cate Blanchett - zu einer wunderschönen und jungen Tänzerin. Schliesslich kehrt der deutlich verjüngte Benjamin von seinen Reisen und vom Krieg nach Hause zurück, wo sich ihre Wege nach langer Zeit wieder kreuzen. Daisy ist fasziniert von der Veränderung, welche Benjamin in den Jahren durchgemacht hat. Aus dem alten Greis, der sie damals verlassen hat, ist ein charismatischer Mann um die 50 geworden, der auf sie eine seltsame Anziehungskraft ausübt. Benjamin jedoch, von Daisy's perfektem Aussehen und dem immer noch grossen "Altersunterschied" eingeschüchtert, weist Daisy ab, höchstwahrscheinlich aus Angst sie zu enttäuschen. So geht Daisy zurück zu ihrer Tanzgruppe nach Paris, wo später ein schlimmer Unfall ihre Karriere frühzeitig beenden wird. Fincher zeigt diesen Unfall in einer meisterhaften Montage über die Zeit und den Zufall (oder ist es Schicksal?) und verdeutlicht damit, wie vieles in unserem Leben ausserhalb unserer Kontrolle liegt. Es dürfte eine der besten Sequenzen sein, die Fincher in seiner Karriere als Filmemacher bisher gedreht hat. All die wichtigen Kleinigkeiten setzen sich hier zu einem perfekten Ganzen zusammen.

Benjamin bricht sofort nach Paris auf als er vom Unfall erfährt, um Daisy im Krankenhaus zu besuchen. Mittlerweile haben sich die Vorzeichen jedoch geändert. Während Daisy verletzt und gebrochen im Krankenhausbett in Selbstmitleid versinkt und realisiert, dass sie nie wieder die perfekte Tänzerin sein wird, hat Benjamin alle äusseren Anzeichen eines alten Mannes verloren und entspricht nahezu dem Idealbild. Deshalb ist es diesmal Daisy, die Benjamin abweist und nichts von ihm sehen möchte. Erst als sie ihre Traurigkeit überwindet und sich selbst akzeptieren kann, wie es Benjamin zu Beginn seines Lebens auch tun musste, kehrt Daisy nach New Orleans zurück und die beiden finden endlich zusammen und durchleben glückliche Jahre. Die Liebe, die sie seit Ewigkeiten miteinander verbindet, hat endlich alle Hindernisse überwunden und sie zu einer Zeit zusammen geführt, in der sie wie ein normales Pärchen im gleichen Alter wirken. Beiden ist bewusst, dass sie sich von diesem Startpunkt aus wieder in unterschiedliche Richtungen bewegen und dass Daisy eines Tages zur alten Frau und Benjamin zum kleinen Jungen werden wird. Beiden ist die Vergänglichkeit ihrer Situation bewusst und beide wissen aufgrund ihrer Erfahrungen damit umzugehen. So gelingt es ihnen, ihre gemeinsame Zeit und ihre Liebe trotz oder gerade wegen der kurzen Periode, die ihnen zur Verfügung steht, zu geniessen. Jahre später entschliesst sich Benjamin letztendlich dazu fortzugehen um Daisy und ihrer gemeinsamen Tochter ein normales Leben zu ermöglichen.


Die ganze Geschichte würde dabei nicht funktionieren, ohne die herausragenden Spezialeffekte, mit denen der Regisseur das Alter der beiden Hauptdarsteller vor unseren Augen praktisch beliebig zu variieren vermag. Fincher setzt die Effekte dabei subtil und wirkungsvoll ein und schafft das Kunststück, das gewünschte Alter perfekt darzustellen, ohne die Wiedererkennungswerte von Pitt und Blanchett auch nur einmal zu verfälschen. Desweiteren ist der Film durchzogen von erdigen Farben und in manchen Einstellungen hat man das Gefühl, ein Fotoalbum aus Sepia-Tönen durchzublättern. Diese Farbwahl unterstützt zum einen den melancholischen Grundtenor des Films und passt zum anderen perfekt zu dieser historischen Geschichte, die fast das komplette zwanzigste Jahrhundert vom ersten Weltkrieg bis hin zur Gegenwart durchläuft.

Ich hoffe, die vorangehenden Zeilen verdeutlichen, warum ich es als grundlegend falsch und ungerecht empfinde, Fincher's "Der seltsame Fall des Benjamin Button" allein auf eine unkonventionelle Geschichte zu reduzieren, denn der Film weist eine Vielfältigkeit auf, die den meisten Hollywoodproduktionen fremd ist. Er ist Fantasyfilm, Liebesfilm und Drama in einem. Er ist gespickt mit fantastischen, wenn auch zurückhaltenden Spezialeffekten und er lässt den Zuschauer nachdenklich im Sessel zurück. Man denkt nach über die Liebe. Kann sie wirklich alle Hindernisse überwinden? Man denkt nach über Schicksal. Gibt es so etwas? Oder sind wir alle nur ein Spielball des Zufalls? Haben wir unser Leben selbst in der Hand? Welche Bedeutung hat der Tod? Reisst er uns aus dem Leben und all seinen schönen Dingen heraus oder ist das Leben nur deshalb so wunderschön, weil es nicht ewig währt? Ist es schlimm ein Leben wie Benjamin führen zu müssen bzw. ist es schlimm wenn einem Schlimmes widerfährt? Sicher ist es das, doch Benjamin lehrt uns, dass viel weniger das zählt, was mit uns geschieht, als das, was wir daraus machen.

Viele der Fragen, die der Film für mich aufgeworfen hat, versucht Fincher zum Glück nicht zu beantworten, sondern behandelt sie eher als Denkanstösse für den Zuschauer. Ebenso wird wohl nicht jeder Zuschauer zwangsläufig über die selben Fragen nachdenken. Viele werden ganz andere Aspekte entdecken als diejenigen, die ich zu skizzieren versucht habe. Es ist ein Film, der so vielseitig sein kann, wie das Publikum selbst und diese Tatsache macht für mich den besonderen Reiz an diesem Schmuckstück aus.