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Freitag, 15. Juli 2011

12 Angry Men – “Life Is In Their Hands, Death Is On Their Minds!”


Auf einem meiner täglichen Streifzüge durch die Tiefen des Webs war es wieder mal soweit. Endstation IMDB um dem schier unstillbaren Hunger nach Filmwissen neue Nahrung zu geben. Lange hatte ich die IMDB Top 250 nicht mehr durchgescrollt und so machte ich mich freudig ans Werk. Beim Betrachten der Liste folgten viele bewundernde Aaaahs und Oooohs, wohlwollendes Nicken und ein imaginärer Klopfer auf die eigene Schulter als ich bei einem Blick zum Wohnzimmerschrank realisierte, dass sich ein Grossteil der Top 50 darin befindet. Doch Moment… Was war das? Platz 6? 12 Angry Men? Die 12 Geschworenen? Zu meiner Schande musste ich mir selbst eingestehen: Noch nie gehört…

Dass dieser Schwarz-Weiss-Klassiker aus dem Jahr 1957 von Filmen wie Zwei glorreiche Halunken, Pulp Fiction, Schindler’s Liste, Einer flog über das Kuckucksnest, Inception und The Dark Knight eingerahmt wurde, entfachte meine Neugier nur noch mehr. Einen Film dieser Güteklasse will kein Filmfan verpassen. Ein Klick auf den Filmtitel offenbarte weitere interessante Aspekte. Regisseur: Die kürzlich im Alter von 86 Jahren verstorbene Regielegende Sidney Lumet. Schauspieler: Henry Fonda. Ein paar Augenblicke später war mein GMX-Postfach um eine Amazon-Bestellbestätigungs-Email reicher.

Die nackten Zahlen klingen dabei zunächst wenig vielversprechend, bestenfalls interessant. Nur 21 Drehtage, ein selbst zu dieser Zeit kümmerliches Budget von 350‘000 $ und von den 96 Minuten Laufzeit spielen 93 Minuten in einem kleinen Raum. Was Sidney Lumet jedoch daraus gemacht hat, ist eine unter die Haut gehende "Charakterstudie im Schnelldurchlauf". Ein Charakterstudie 12 unterschiedlicher Männer, welche mit teils beissender Gesellschaftskritik die Vorurteile und Gleichgültigkeit einer ganzen Nation entlarvte.

Die Geschichte ist schnell erzählt. Ein junger Mann ist wegen Mordes angeklagt und eine aus 12 fremden Männern zusammengewürfelte Jury soll über Schuld oder Unschuld des Angeklagten entscheiden. Dazu werden sie in einen kleinen Raum des Gerichtsgebäudes gesperrt, welchen sie erst bei einem einstimmigen Urteil wieder verlassen können. Die 12 Geschworenen werden dargestellt von Martin Balsam (Geschworener Nr. 1), John Fiedler (Nr. 2), Lee J. Cobb (Nr. 3), E.G. Marshall (Nr. 4), Jack Klugman (Nr. 5), Edward Binns (Nr. 6), Jack Warden (Nr. 7), Henry Fonda (Nr. 8), Joseph Sweeney (Nr. 9), Ed Begley (Nr. 10), George Voskovec (Nr. 11) und Robert Webber (Nr. 12). Jeder von ihnen verdient hier eine namentliche Nennung, da jeder Einzelne die Handlung an verschiedenen Stellen des Filmes voran treibt. Natürlich nimmt Henry Fonda die Starrolle in diesem Ensemble ein, letztendlich ist es jedoch ein Film mit 12 annähernd gleichberechtigten Hauptdarstellern.

In einer ersten Abstimmung ergreift einzig Geschworener Nr. 8 – Henry Fonda – Partei für den Angeklagten. Nr. 8, symbolträchtig in einem weissen Anzug gekleidet, wird auch für den Rest des Filmes versuchen, seine unfreiwilligen Kollegen von der Unschuld des Angeklagten zu überzeugen. Bald bekommt er Unterstützung von Nr. 9 und da diese beiden Männer sich mutig einer wilden Meute entgegenstellen um dem Angeklagten beizustehen, wird ihnen (wenn auch erst am Ende des Filmes) die Ehre zu Teil, dass der Zuschauer ihre Namen erfährt. Mr. Davis und Mr. McCardle. Der Rest der Jury bleibt anonym, nur durch ihre Nummern voneinander zu unterscheiden. Doch wer wird triumphieren? Davis und McCardle oder die auf ein schnelles Todesurteil pochende Mehrheit der Geschworenen? Das Urteil der Jury ist zu Beginn kaum abzusehen, zumal Nr. 8 keine stichhaltigen Beweise für die Unschuld des Angeklagten vorbringen kann, sondern einzig und allein Zweifel an den dargelegten Beweisen für die Schuld des Angeklagten hegt.

Während der immer hitziger geführten Diskussion nimmt Lumet fast unmerklich eine Änderung der Kameraperspektive vor, welche dem Zuschauer unbewusst die Situation der 12 Geschworenen vor Augen führt. Zu Beginn wählt Lumet eine Kameraposition oberhalb der Augenhöhe in Kombination mit einem Normalobjektiv, wodurch der Raum deutlich grösser erscheint. Fast fliessend lässt Lumet die Kamera im Laufe des Filmes jedoch immer weiter nach unten gleiten. Schliesslich, zu einem fortgeschrittenen Zeitpunkt, in der die Anspannung im Raum regelrecht greifbar ist, wird bei einem Grossteil der Szenen eine Kameraposition unterhalb der Augenhöhe mit Teleobjektiven kombiniert. Dadurch wirkt der Raum enger, die Abstände zwischen den Personen wirken kleiner, das Gefühl von Klaustrophobie wird verstärkt. Den Geschworenen und auch dem Zuschauer fällt regelrecht die Decke auf den Kopf. Die sengende Hitze, welche für den Zuschauer aufgrund der Intensität der Bilder beinahe spürbar ist, macht den Männern zusätzlich zu schaffen. In diesem nervenaufreibenden Setting peitscht Lumet seine Protagonisten von einer Konfrontation zur nächsten, bis einige der Geschworenen ihre vordergründige Neutralität ablegen und die wahren Gründe für ihren unverhohlenen Hass offenbaren.

Weshalb 12 Angry Men seinen Platz in oben erwähnter, illustrer Liste von absoluten Topfilmen zweifelsfrei verdient hat, dürfte den meisten Filmliebhabern bereits beim ersten Sehen klar werden. Und am liebsten würde ich all die Uwe Bolls, Paul W. S. Andersons und auch Michael Bays in einen ebenso kleinen Raum sperren wie die 12 Geschworenen und ihnen Lumet's 12 Angry Men vorführen. Immer und immer wieder. Bis auch sie verstanden haben, dass es für einen guten Film so viel mehr, aber eben auch so viel weniger benötigt, als das, was sie uns regelmässig vorsetzen. Herausragende Schauspieler, eine dichte Atmosphäre, eine fesselnde Geschichte und Leute hinter der Kamera, die bei jedem Schnitt exakt zu wissen scheinen, weshalb sie ihn setzen. 12 Angry Men hat all dies. Nicht mehr und nicht weniger.

4 Kommentare:

  1. So, ich bin sehr auf Reaktionen gespannt. Habe mal einen etwas anderen Film gewählt und bin neugierig, wie viele den von euch kennen.

    O

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  2. Ja, na klar kenn ich den :) Ein absoluter Klassiker. Die Geschichte von Reginald Rose wurde ja mehrfach verfilmt, und ich muss zugeben, dass mir das Remake aus dem Jahr 97 mit Jack Lemmon ebenso gut gefällt wie der von Dir besprochene Film.
    Die Geschichte bietet in vielerlei Hinsicht Grund, sie als Klassiker zu bezeichnen, denn sie ist einfach sehr klassisch aufgebaut. Dem Zuschauer wird zu Beginn ein ganz konkreter Sachverhalt, die mutmaßliche Ermordung eines Mannes durch seinen Sohn, als Ausgangspunkt der Geschichte gegeben. Daraufhin erfolgt eine stückweite Vergrößerung des inhaltichen Kontextes durch die Übertragung der konkreten Sachverhalte auf generische Aspekte des Lebens. Dadurch können im Allgemeinen sonst schwierig zu behandelnde Themen (z.B. Kritik am Rechtssystem, Rassendiskriminierung, Religion, usw.) zugänglich gemacht und kritisch betrachtet werden.
    Das ganz besondere an 12 Angry Men ist dabei das charakterorientierte Dramaturgie-Modell. Die Geschichte entwickelt sich also nicht plotorientiert, sondern aus den individuellen Motivationen, Meinungen und Ansichten der einzelnen Charaktere. Ich persönlich glaube, dass es für Autoren immer gewinnbringend ist, tiefgehende und dadurch lebendige Charaktere zu erdenken. Durch solche, "lebendige" Charaktere kann sich eine Geschichte dann viel realistischer und organischer entwickeln (man stellt sich die Frage "Wie reagiert John C. jetzt auf diese neue Situation?" und der Charakter gibt die Antwort), als bei einem plot-getriebenen Ansatz (man stellt sich immer nur die Frage "Was passiert als nächstes?").

    Bei den 12 Geschworenen ist es aber tatsächlich so, dass die Charaktere für heutige Standards sogar etwas zu Stereotyp wirken, zumindest, wie ich es in erinnerung hab. Das tut der QUalität des Kammerspiels aber keinen Abbruch, denn es passiert auf Intention des Autors (und des Regisseurs). Man kann dieses Erfolgsrezept nur schwer auf "offene Szenarien" übertragen, weshalb ich Angst davor hätte, was ein Boll oder Bay daraus machen würden.

    Just my two cents... for now!

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  3. Du hast recht, wenn jemand nach der Definition von "Stereotyp" suchen würde, dann würde er wahrscheinlich einen Verweis auf diesen Film finden. Du hast aber auch recht, dass dies sicherlich völlig beabsichtigt war und der Geschichte im Grossen und Ganzen sogar hilft. Es ist etwas, das einem sofort ins Auge sticht, aber nicht störend ist, weil es trotz der Deutlichkeit niemals aufgesetzt oder konstruiert wirkt.

    Und natürlich hätte ich auch grosse Angst, was besagte Regisseure mit so einem Stoff anfangen würden. Die Unterschiede in Qualität und Machart und einfach die ganze Herangehensweise an einen Film sind so grundlegend verschieden, dass mir das nach einem der schlimmsten Kinobesuche meines Lebens (öhm... Transformers 3... öhm) einfach nicht mehr aus der Birne wollte :-)

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  4. So, auch ich bin wieder im Netz aktiv und kann nun endlich meinen Kommentar schreiben. Eine wunderbarer Pick, Oli. Ich habe mir den Film natürlich nach deiner schönen Besprechung gleich nochmal zu Gemüte geführt. Große Kinokunst. Ihr habt natürlich recht, wenn ihr auf das stereotype Spiel der Darsteller verweist. Diesbezüglich kann der Film aber auch nicht an heutigen Standards - ob gut oder schlecht - gemessen werden. Das Spiel war zu dieser Zeit, speziell in Amerika, einfach noch sehr viel theatraler, tut aber der Glaubwürdigkeit keinen Abbruch. Trotzdem gelingt es dem Film, obschon ein single-set Film, eine immense Spannung und "Hitze" zu erzeugen. Ich halte ihn auch für kein bisschen angestaubt, auch wenn Bay-Jünger das vielleicht anders sehen mögen. Der sehr starke Symbolismus tut sein übriges, um den Rezipienten vollens ins seinen Bann zu ziehen. Das großartige Ende , der junge Jack Klugman - besser bekannt als Quincy - und die Darsteller allgemein sind weitere Punkte, die Platz 6 - zumindest für mich - durchaus rechtfertigen. Ich bin schon einige Jahre ein großer Bewunderer von Sidney Lumet, der uns u.a. "Serpico", mit einem groß aufspieleneden Pacino, "Hundstage", "The Verdict" (mit Paul Newman) und "Tödliche Entscheidung" geschenkt hat. Er zählt für mich zu den ganz Großen des Kinos, wird aber leider viel zu selten für seine außerordentlich Leistung sowie seine Konstanz gewürdigt. Sehr bedauerlich, dass er uns seit diesem Jahr keine neuen Filme mehr schenken kann. Ein großer Geschichtenerzähler geht der Leinwand verloren.

    Bezüglich der Angst, was Bay und Boll mit besagtem Stoff anfangen würden, kann ich euch beruhigen. Keinem von beiden käme es je in den Sinn Charakterkino zu machen. Die Herren setzen vielmehr auf den Effekt, der die löchrige, mau inszenierte Geschichte tragen soll. Ich bin aber genau gegenteiliger Meinung: der Effekt kann/darf die Geschichte unterstützen, mehr jedoch nicht. Wenn ich möchte, dass der Effekt die Geschichte überflügelt, dann schau ich mir diesen Autobahncop Serientrash auf RTL an. Ich kann dem Schlussabschnitt deiner Besprechung nur beipflichten, Oli. Weiter so...

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